Manipulative und destruktive gesellschaftliche Machtstrukturen
Das andere Wissen – Vom weiblichen Körpererleben
Ein Schriftverkehr von Y. M. und Gabriele Fischer
Abstract
Worum geht es in unserem Austausch? Es geht um Tanz, um Bewegung, um einen Zugang zum Körper, zum Körpergewebe, wie wir ihn unter Frauen pflegen und weiterentwickeln. Dabei sind uns wichtige Rahmenbedingungen aufgefallen, vom Wischen des Bodens bis zum Bodyreading, dem Sehen und Gesehen werden im therapeutischen Setting.
Mit dem, wie wir andere sehen, können wir ihnen Räume erschließen oder einengen. Nähe zu sich selbst einladen oder verhindern. Da sind wir bei dem Thema Gemeinschaft. Wir brauchen als Frauen die Gemeinschaft mit anderen Frauen um gesehen zu werden und um uns zeigen zu können. Damit können wir die Geschichte unseres Lebens, die unser bewusstes Sein bestimmt, also all das, was wir als Frau empfinden, erleben, ausdrücken, einfordern, privat und öffentlich, selbstbestimmt gestalten, aus dem Potential unserer sensomotorischen Kreativität unser Frau-sein wachsen lassen.
Wie dies gelingen kann und welche Hindernisse dabei auftauchen, darüber tauschen wir uns in diesem Schriftverkehr aus. Wir schreiben uns über eine gemeinsam erlebte lehrtherapeutische Einzelsession im Rahmen der SupervisonHKIT. Yvonne M. ist Klientin und berichtet, was ihr dabei widerfahren ist und ich, als ihre Lehrtherapeutin HKIT assoziiere mit ihr gemeinsam, woher des Weges und wohin des Weges diese Körpererfahrung geht. Vor allem berichtet Y.M. von der unmittelbaren Umsetzung in ihre Arbeit mit Kindern und in ihre Lehrtätigkeit als Dozentin mit StudentInnen der Hochschule für Tanz und Musik in Rostock.
Die Besonderheit unserer Klientin-Therapeutin-Beziehung liegt darin, dass ich in Stuttgart geboren und aufgewachsen bin und sie, ca 20 Jahre später, in Rostock. Wir begegneten unterschiedlichen politischen Systemen. Wie sich das auf Y.M. auswirkte ist ihre persönliche Geschichte und gleichzeitig ähneln ihre Körpererfahrungen denen von anderen meiner Klientinnen, die in totalitären Systemen aufgewachsen sind.
Es zeigt sich im Laufe unseres Schriftverkehrs, wie wir uns vorsichtig über unser Körpersein annähern und wie sich ein gemeinsamer Raum öffnet, in dem sich unser Körperwissen austauscht und neu aufbaut. Unsere auf diese Weise veränderte Wahrnehmung verändert die Welt um uns. Wo Haltlosigkeit herrschte kann jetzt der Boden berührt werden, kann ein Körper halt bieten und damit destruktiven und manipulativen Strukturen im Außen, die sich tief im Körpergewebe eingebrannt haben Einhalt gebieten.
Der Artikel könnte auch heißen Auswirkungen und Überwindung von Spuren totalitärer politischer Systeme im Körpergewebe einer Frau oder wie lebt sich Frau sein in der Diktatur.
Vom 12. bis 17. April 2016 traf sich eine kleine Gruppe von HKIT-Tanztherapeutinnen i.A. mit mir zur Supervision. Unser Thema war Bodyreading. Hier der Ausschreibungstext:
Jede Bewegung erzählt mir: das habe ich erlebt
Das in der Massage im Märzblock Angefangene werden wir in diesem Block vertiefen. Wo ist der Atem? Wo ist die Energie? Wo ist gar keine Kraft im Körper? Woran sehe ich das als Therapeutin? Geht das überhaupt? Wo liegen meine Grenzen und wie gehe ich mit meinem Klientel um? Vorsicht meine Freunde, sagt Vicky Wal, ihr betretet das Gewebe meines Lebens. Diesen Satz aus dem Buch Auro Soma Therapie, habe ich mir gut gemerkt. Zeigt er doch in wenigen Worten worum es geht, wenn wir tanztherapeutisch arbeiten. Die Menschen die sich uns anvertrauen wollen nicht beurteilt oder bewertet werden. Sie suchen nach Entwicklung, nach Lösungen für Festgefahrenes, Festgehaltenes. Welcher Blick ist da nötig? Wie sehen wir einen Körper der sich bewegt? Wie sprechen wir über das Gesehene? Und wie und wo und wann intervenieren wir? Bodyreading. Den Körper lesen. Wie geht das? Wie viel geht da? und was geht da auch gar nicht? Auch hier wieder das Thema mit der therapeutischen Beziehung, wie tanzt sich dieses feine Spiel zwischen KlientIn und Therapeutin zu einem gemeinsamen Heilungstanzritual?
Das Setting
Die Teilnehmerinnen sind seit vier oder fünf Jahren in der Tanztherapeutischen Ausbildung HKIT. In der Supervision arbeiten wir praxisbegleitend, so dass wir am ersten Tag neben Körperarbeit über Erfahrungen der Teilnehmerinnen mit HKIT in ihrer tanztherapeutischen Paxis sprechen und ich den Vorschlag mache, die folgenden Tage zum Thema Bodyreading in einer Form von Einzelarbeit mit mir weiter zu machen, in der die anderen Teilnehmerinnen hospitieren können.
Dieses Angebot wurde gerne angenommen, bietet es doch die seltene Möglichkeit bei einer Einzelarbeit, die ich als Ausbilderin anbiete, dabei zu sein, was ansonsten nicht möglich ist. Täglich haben also alle drei Teilnehmerinnen eine Einzelsession von sechzig Minuten. Ich teile am ersten Tag noch den für den Körperpsychotherapiekongress 2015 in Lisabon geschriebenen Text: Sehen und Gesehen* werden aus, als theoretische Grundlage und am anderen Tag geht es los.
Die Einzel
Y.M. bewegte sich durch den Tanzraum, wir drei anderen sitzen im Zuschauerbereich an einer der Stirnseiten des Raums und schauen zu. Irgendwann legt sich Y.M. links, drei Meter vor uns auf den Boden, die Beine unter sich angewinkelt, Brust und Stirn berühren das Parkett, ebenso Knie, Schienbeine und Fußrücken. So liegt sie vor uns. Der Atem, kaum sichtbar, im Rücken- und Lendenbereich. Ich gehe auf die Knie um ihn zu sehen. Sie spricht von Widerstand. Ich gebe ihr mein O.K.. Sie spricht davon, dass sie gerne Handstand machen würde und Kopfstand. Davor sprach sie über ihre Schulter.
Irgendwann streckt sie die Beine nach hinten gerade aus. Ich mache ihr den Vorschlag sich über den Boden zu rollen. Das machte sie dann nach anfänglichem Widerstand auch. Das Rollen war ein tänzerisch erlerntes, sie zeigte uns, die Arbeit gegen und mit der Schwerkraft im Rollen. Ich erinnerte mich an Marta Graham und ihre Pionierarbeit die die Arbeit mit der Schwerkraft ins Blickfeld des Tanzes rückte.
Mein Körper erinnerte sich an das Frühlingserwachen in meiner Heimat, die kleinen Böschungen mit ihren leeren Schneckenhäusle, die wir als Kinder hinunter rollten, ohne Anstrengung weil das Gelände abschüssig war und die Schwerkraft da andere Dimensionen einnahm als auf dem glatten beheizten Schwingfußboden. Ich überlege mir, ob es weh tut, sich da zu rollen, die Arme über dem Kopf ausgestreckt während ich die krümelige in der Frühlingssonne getrocknete Erde meiner Heimat am ganzen Körper spüre und sich meine Bewegungen beschleunigen. Y.M. liegt da und spürt nach.
Nach der zweiten Einzel muss Y.M. verfrüht zu dem Workshop abreisen, von dem sie im Folgenden schreibt. Ich wusste einzelne Details aus früheren Erzählungen aus Y.M.s Leben. Der Schock als der Großvater mit 3 Jahren starb und die Vopo mitten in der Nacht der Großmutter, bei der sie in dieser Nacht schlief, diese Nachricht überbrachte. Die Wucht der in dieser Nachricht enthaltenen Botschaften brach über sie im Bruchteil einer Sekunde herein. Bis heute, auch in der BRD, hat die Familie keinen Zugang zu den Stasiakten und dem Hergang. Die Hintergründe dieses Todes bleiben dadurch nebulös.
Der Nachklang
Ich bitte die Teilnehmerinnen mir ein feedback nach der Supervison zukommen zu lassen. Ich schrieb am 18. April 2016 im blog ressource HKIT:
Bodyreading, da geht es in den HKIT um SEHEN und GESEHEN werden. Sehen ist für uns ein multimedialer und synästhetischer Dialog, ein Austausch von Erfahrungen und Wissen, das sich im sensomotorischen Raum sammelt, wenn wir uns bewegen/tanzen und in Worte, Symbole, Gefühle verpackt in den bewussten Raum unseres Seins tritt, wenn wir darüber reden, was wir, wenn wir uns bewegen erleben. Der sensomotorische Raum hat keine Sprache. Oder doch? Wie spricht Körper? Wie spricht Bewegung? Wie spricht Tanz?
Im Spiel der Spiegelneuronen antworten unsere Muskeln direkt und unmittelbar auf Bewegungen die wir bei einem anderen Menschen sehen. Das ist fantastisch. Das Publikum tanzt bei unseren Performances also immer mit. Bewegung und Berührung inklusive.
Die Sprache des Körpers geht eigene Wege. Wenn wir es schaffen als Tanztherapeutinnen HKIT in den sensomotorischen Raum einzutreten in den uns der Körper unseres Klientels einlädt, dann kann Bewegung zu Berührung werden. Unsere Augen fangen an anders zu sehen und unser Körper tritt ein in ein unbekanntes Bewegungsreich. Wir konnten in dieser Sup den Luxus einer kleinen Gruppe genießen und sehr intensiv in die Nähe die da entsteht eintauchen und sie im anschließenden Gespräch reflektieren.
Am Dienstag 19. April 2016 erreicht mich folgende Antwort von Y.M.:
Sehen und Gesehen werden
Ganz intensiv begleitet mich eine tiefe Befriedigung, die ich aus unserem luxuriösen und nahen Arbeiten mitgenommen habe. Das spürbare Vertrauen ineinander. Die Wahrung des Interesses aneinander und der Raum für Heilung durch Achtsamkeit und Hinwendung. Wirklich eine sehr sättigende Erfahrung.
Auf der körperlichen Ebene für mich spürbar als gelöste Schwere begleitet von Müdigkeit. In dieser gelösten Schwere und Müdigkeit liegt für mich trotz der momentanen Schwächung ein Versprechen auf Besserung. Dieses Körpergefühl birgt nämlich auch Entspannung in sich. So wie Lösung von etwas.
Im Grunde bin ich ja in Kontakt gekommen. Kontakt im elementaren Sinne. Mit einem Ort in meinem Körper, der sich eben anfühlt wie mein Grund. Tief im Boden meines Beckens, der ganz lose ist, haltlos. Dieser Kontakt ist nur möglich geworden durch die Luxussituation, die wir hatten letzte Woche. Zu den beiden anderen Teilnehmerinnen der Supervision habe ich ein sehr gutes und vertrauenswürdiges Verhältnis. Zu dir habe ich schon im ersten Block einen intensiven und innigen körperlichen Kontakt durch die Massage erfahren.
Daran konnte ich anknüpfen. Denn ein Öffnen in dieser tiefen Dimension bedeutet für mich: mich ausliefern und mich in Gefahr begeben. In die Gefahr des Erschüttert-werdens durch die „Unachtsamkeit“ von jemandem. Ich finde, dass ist ja immer ein Wagnis – in allen Lebenskontexten. Auch im therapeutischen. Und dafür danke ich dir, dass es in unserer Zusammenarbeit so gut geglückt ist und ich auf diesem Grund weitergehen kann!
Und ich habe gesehen und beobachten können wie du den Kontakt herstellst zu den Frauen und sie darauf „antworten“ und andersherum. Mit dieser Erfahrung bin ich in das Seminar mit 25 Kindern gegangen: Artistik und Tanztheater und habe etwas ganz Wertvolles erlebt.
Ich habe erlebt vom eigenen Sehen ins Tun zu kommen. Zum Beispiel einen gehaltenen Rückwärtssalto zu machen. Herrlich. Herrlich war zu spüren wie mein Seminarkollege eine absolute Sicherheit in dem hat, was er tut. Und somit die Kinder wirklich versuchen konnten Risiken einzugehen, da er durch jahrzehntelange Verinnerlichung ein herzlicher Fels ist, der weiß was er tut und den Kindern Räume öffnet. Da konnte ich am lebendigen Leibe spüren, was es bedeutet einen Partner/Menschen zu haben, der mich halten kann im wahrsten Sinne des Wortes.
Außerdem konnte ich von unseren Tagen auch weiterhin profitieren. Sechs der Kinder, zogen sich mit zunehmendem Schwierigkeitsgrad immer mehr in sich zurück. Aus Angst. Da ergab sich schnell meine „Funktion“ für die, die sich sonst an diesen Stellen im Tanzraum schnell überflüssig und unfähig fühlen.
Ich machte das Angebot, auch in Absprache mit meinem Kollegen, sich mehr, viel mehr Zeit für die Bewegungen zu nehmen. Bewegungsaufgabe war Rad schlagen und Rollen, seitlich über den Rücken eines anderen und den Boden. Und was ich da beobachtete war erschreckend und erhellend gleichzeitig. Bei allen Kindern waren zwei Sachen offensichtlich. Sie entbehrten, wie ich in der Therapie, der Erfahrung einer sicheren „Unterlage“ und waren extrem angespannt und zusammengekauert, sobald sie sich ablegen hätten können. Und, es fiel allen schwer mit den Händen festen Kontakt zur Unterlage wie Rücken und Boden aufzunehmen. Dieser war sehr flüchtig und kaum spürbar.
Dank unserer HKIT-Arbeit konnte ich den Kindern andere Zugänge ermöglichen. Zum Beispiel sich erst einmal zu lehnen auf einen Rücken und zu versuchen in Ruhe sich zu legen und so ein Gefühl zu bekommen für gelösteres und sicheres Liegen. (Sich abzudrücken von etwas geht ja auch erst wenn ich mich lehnen und mein Gewicht abgeben und spüren kann). Das Tempo also sehr reduziert. Das war toll zu erleben wie dankbar die Kinder waren dieses Tempo und diese Selbsterfahrung zu machen.
In der Abschlussrunde heute sagten alle etwas. Und diese sechs „Extrakinder“ sagten, dass ihnen besonders gut das Rad gefallen hat. Sie haben sich vorher nicht getraut und bis Freitag gedacht, das können sie nicht, nur die anderen. Ach wie schön, diesen Mut-Zuwachs und das Vertrauen in sich zu erleben. Ich hoffe, das können sie sich behalten, beim weiteren Üben.
So ausführlich schreibe ich, weil ich die Anregung von dir ja nun hier her genommen habe, in das Seminar: Was sehe ich und wie reagiere ich darauf? Mich hat es auch sehr berührt zu spüren wie dankbar die Kinder sind Raum zu haben, in dem sie sich probieren können – ohne Eile und Wettkampf. Y.M.
Ich schreibe ihr daraufhin: Liebe Y., waren die Extra Kinder Mädchen oder Jungen oder wie viele jeweils? Wie hoch war der Mädchenanteil in der gesamten Gruppe? Ich finde dein Text würde gut in das Buch der NEUEN ROSEN passen, wo es um das andere Wissen von Frauen geht und darum, wie Frauen ihren Körper erleben.
Ich finde deinen Text so gespürt geschrieben und er zeigt auch, wie wichtig es ist, dass wir von unserem Körper aus gehen und nicht so neutral tun in der Arbeit mit anderen Menschen, als hätten wir kein Geschlecht. Aufgrund unserer Erfahrungen als Mädchen oder Frau können wir die anderen besser sehen und auch abholen … es berührt mich sehr, was du über dich schreibst und ich erinnere gerade im Scheiben eine Zeit, wo ich viel so lag wie du in der Einzel, ich habe damals sogar Tonfiguren gebaut und gebrannt, mit dieser Körperhaltung, so wichtig war sie mir … ich erinnere genau den Raum, den Holzfußboden auf dem ich lag, den Geruch … unglaublich … wie sich so eine tiefe Körpererfahrung weiter reicht … bis hin zu den Kids in R.
Kannst du spüren, dass die Kommunikation in die du mit den Kindern eingetreten bist mit dir als Frau zu tun hat? Das hört sich jetzt komisch an, ich finde, wir sind ja immer Frauen, bei allem, was wir machen tun wir das aus unserem Frau-sein heraus … für das Buch geht es darum, das auch zu benennen und als Körperwissen von Frauen zu diskutieren. Gerade dieses Körperwissen kommt mir bei dir so entgegen, aus der Körperhaltung, die du eingenommen hast am Boden und die auch für mich den Beckenboden in besonderer Weise erfahrbar macht. Zitat von dir:
Im Grunde bin ich ja in Kontakt gekommen. Kontakt im elementaren Sinne. Mit einem Ort in meinem Körper, der sich eben anfühlt wie mein Grund. Tief im Boden meines Beckens, der ganz lose ist, haltlos.
Das hast du geschrieben und ich denke, das passt zu meiner in dem Artikel zum Maskentanz geschilderten Beobachtung, dass es eine spezifisch weibliche Körpererfahrung geben muss:
Mein Schlüsselerlebnis war vor Jahren meine erste Maske. Zu ihr gehörte eine chinesische Glocke, eine überdimensionale Klangschale. In ihr ruhte meine Maske. Ihr Klang bewegte sie. Als dann der Leiter des Maskenbauworkshops mir eine Trommel anbot, weil ich doch mit dem Becken arbeite war ich perplex. Wie konnte er diesen geschlossenen Trommelkörper als Becken wahrnehmen? Mein Becken fühlt sich offen an. Das Körpererleben eines Mannes scheint fundamental anders zu sein als das einer Frau.
Du schreibst natürlich von etwas ganz anderem, doch es geht mir erst einmal um den Ort, das Becken … sich da zu spüren in der Körperhaltung, nach vorne über gebeugt, die Füße angezogen, den Kopf am Boden. Wenn ich jetzt da weiter denke, also, was es heißt, sich da ganz lose oder haltlos zu fühlen, dann denke ich, da geht es sehr zentral um eine weibliche Körpererfahrung und da fängt die Suche nach dem Halt an.
Du überträgst das dann auf die Kinder, spürst, wie sie keinen Halt haben im Kontakt mit der Erde, wie sie den Halt nicht greifen können mit den Händen am Boden, sich keinen Halt suchen oder nehmen und hilfst ihnen den zu finden durch Verlangsamung der Bewegungen, durch ein Bewegungsangebot, bei dem sie in Kontakt kommen mit dem Körper (Rücken) der anderen Kinder, oder im Ganzkörperkontakt, den das Rollen über den Boden schafft, der dann zu einem Rollen in der Luft werden kann, was das Radschlagen ja ist, reduzierter Erdkontakt über die Handflächen, aber der Körper in seiner inwendigen Drehung spürt sich immer noch in tiefem Erdkontakt an. Dazu braucht es die vorausgegangene Erfahrung von über den Körper anderer Kinder drehen oder auch in sattem Erdkontakt rollen. Da baut sich die Körpererde auf, sich geerdet fühlen im Körper selber, der Körper als Halt, als unser Kontakt zu Mutter Erde.
Geerdet sein. Ein so wichtiges Thema, das sich in der Überschrift Sehen und Gesehen werden erst mal nicht widerspiegelt und doch ist ein Sehen aus einem geerdeten Körperempfinden heraus etwas völlig anderes als wenn wir keinen Kontakt zu unserem Körper haben und andere ansehen.
Vielleicht kannst du mir noch mehr schreiben zu der Haltlosigkeit, die du da spürst, das wäre anregend, aus welchem Grund heraus zu empfindest, also noch mehr über dich und deine Ausgangsbasis zu erfahren, woher diese Haltlosigkeit kommt, wo und wann du sie zum ersten Mal erinnerst … .
Antwort von Y.M. auf mein Schreiben am 21. April 2016
Es waren 25 Kinder, 24 Mädchen, ein Junge und die Extrakinder waren ausschließlich Mädchen.
Rollen längs über den Boden stellte mein Kollege als Vorübung an. Mein Kollege war 20 Jahre Artist im Zirkus und leitet heute eine Artistenschule. Ich habe ihn nach seiner Intention bei der Übung Rollen gefragt. Er antwortete: Ziel ist das Geradeaus rollen können. Also Raumorientierung in Drehung und Bodenlage. Ich dachte dann bei mir: Ja gute Idee. Doch was ist mit denen, denen das nicht gelingt. Und wieso. Atmung, den Boden spüren, das Liegen, das Tempo.
Diese Körperwahrnehmung wirkt sogar in meine Träume hinein. Ich habe immer das Wort Sensomotorik in meinen Gedanken und wache auf nachts mit einem eigenartigen Gefühl wie – dafür habe ich noch keine Worte.
Ich warte auf ein weiteres Schreiben von Y.M., das sie angekündigt hat und merke, wie anders es ist wenn ich in ihrem Text das Wort Kinder mit Mädchen übersetzte. Ich fühle mich körperlich anders, wenn da Mädchen steht, fühle mich gemeint, angesprochen, fühle meinen Mädchenkörper, das macht einen Unterschied, auch die Sicht auf die Mädchen in der Gruppe ändert sich, wenn ich über die Geschlechterverteilung Bescheid weiß. Ich entschließe mich den ursprünglichen Text von Y.M. nicht zu verändern um diese aufgehende Türe den LeserInnen erfahrbar zu machen.
Ich denke sofort über Benachteiligung von Mädchen nach und solche Dinge. Das zu tun ist nicht immer wirklich ermutigend in meinem Leben gewesen, es hat mich oft sehr pessimistisch gestimmt und der erhoffte feministische Antrieb blieb dann in den negativen Erfahrungen als Mädchen hängen. Ich bin gespannt, was Y.M. über den Sensomotorischen Raum und ihre Träume schreiben wird, in wie weit sich das erhellend auswirkt auf die Geschichte und überhaupt, wie wird sich wohl alles weiter ent-wickeln mit diesem Thema Frau in Bewegung?
In der Zwischenzeit ist ein zweiter Bericht einer anderen Teilnehmerin bei mir eingetroffen:
Liebe Gabriele,
es war eine wertvolle Erfahrung für mich, deine Einzelarbeit mit den anderen Frauen beobachten zu dürfen. Am wichtigsten war für mich, wie du den Tänzerinnen individuell den Raum und vor allem die Zeit gegeben hast, die sie benötigten. Das sowohl beim Tanz als auch bei der Massage das „Innehalten“ ein wichtiger Teil unserer Arbeit ist, damit es sich weiterbewegen, ins Fließen kommen kann. Das wusste ich vorher auch schon, aber als Beobachterin habe ich gespürt, dass mich das „Innehalten“ unruhig gemacht hat. Mein erster Impuls war „Oh, jetzt muss ich als Therapeutin aktiv werden, etwas machen oder sagen“ Ja, das war eine wichtige Erfahrung für mich, die mir die Sicherheit gibt, auf den Prozess zu vertrauen.
Was ist wichtig bei der Tanztherapeutischen Einzelarbeit:
– Einen geschützten Raum schaffen (Heilungsraum)
– In Verbindung mit sich selbst und der Klientin sein
– Hinsehen – Bodyreading / Was sagen uns Mimik, der Atem, die Körperhaltung,
Bewegung und der Tanz der Klientin?
– In die Bewegung der Klientin zu gehen, hin spüren wie sich die
Bewegung der Klientin anfühlt
– Der Klientin den Raum und die Zeit geben die sie braucht
– Auf den Prozess vertrauen / prozessorientiert begleiten
– Präsenz zeigen / den Raum halten / Der Tänzerin Rückhalt, Sicherheit
geben / Vertrauen schaffen
– Hinhören – Kommunikation
– Mitgefühl zeigen
– Ein gutes Ende finden
Bei meinen Einzelstunden habe ich für mich die folgenden Perlen eingesammelt:
– Einen liebevollen und achtsamen Zugang zu meinem Darm
– Einen blauen Delphin,an den ich mich tänzerisch anbinden kann
– Einen Barhocker, ein stabileres, breiteres, angenehmeres Gehen, bei dem ich mein Becken nun nicht mehr nach vorne schiebe, denn ich möchte ja auf dem Barhocker platz nehmen! Dadurch kann ich mein Becken beim Gehen locker lassen und meine Leiste freut sich.
– Meine größte Perle ist das Gefühl der inneren Ruhe und Stabilität. Als ich Zuhause ankam und meine Sachen auspackte, durchflutete mich eine tiefe, innere Ruhe und Stabilität die aus meiner inneren Mitte, meinem geöffneten Becken kam, welch ein Geschenk!!!
– Meinem Weg vertrauen, meine kleinen Schlenker liebevoll annehmen und mir den Raum und die Zeit geben, die ich für meinen Weg benötige
– Den guten Vorsatz mir im Alltag regelmäßig die Zeit zu nehmen, meine Perlen durch liebevolle und achtsame Zuwendung zu erhalten und sie weiterzubewegen
Diese Ergänzung und Erweiterung unseres Tanzgeschehens scheint mir, um die Erfahrungen von Y.M. zu diskutieren, wichtig. Hier nun die Antwort von Yvonne M. am 23.4.2106
Die Haltlosigkeit in meinem Becken zu spüren hat sehr viele Jahre gedauert. Mir mangelte es ja an Vertrauen in mich. Dieser Mangel an Vertrauen – Urvertrauen vielleicht sogar – geht ja ganz früh in mein Leben zurück, wenn nicht gar in die Leben meiner Ahnen. So mein Gefühl dazu. Dazu kommt die politische Dimension, die sich in Deutschland nach 1945 strukturiert hat und eine Doppelbödigkeit schuf, die unsichtbar jedoch spürbar war.
Dieses Spüren in mir und die gleichzeitige Resonanzlosigkeit also Rückmeldung meiner Wahr-nehmung im Außen, hat mich das Vertrauen verlieren lassen in mich. Da stimmte doch was nicht. Alle anderen jedoch verhüllten diese Wahrheit in ein Zaubertuch, welches dafür sorgte, dass verdrängt, betäubt und verschwiegen wurde. Da brauchte es Schlaftabletten und Alkohol für. Regelmäßig. Um das Zaubertuch am Leben zu erhalten.
In dieser Struktur lässt sich natürlich kein spürbarer wahrhaftiger Halt finden körperlich und seelisch. Nur scheinbar und gekoppelt an Substanzen, die die Wahrnehmung so weit ändern, dass die Wahrheit erträglich wird. Das ist meine unmittelbare Antwort auf deine Frage.
Ich denke auch, dass auch in der jetzigen gesellschaftlichen Situation die Kinder und Menschen grundsätzlich eine Haltlosigkeit in sich bergen, die sie nicht spüren, spüren können. Werte sind verlorengegangen. Verbindung zum eigenen Körper ist kaum möglich aufgrund vieler Faktoren: Technik, Kapitalismus, Konsumverhalten, Hetze etc. Dies führt ja zu Vorbildern. Diese Vorbilder sind entfernt von sich selbst. Und ich denke auch alle sehnen sich im Grunde nach Verwurzelung und Einfachheit. Doch wir/sie wissen nicht wie es geht. Stattdessen leben wir in Ersatzbefried(ig)ung und diese Haltung/Verhalten wird meiner Meinung nach gefördert durch Manipulation…
Ob mein in Resonanz gehen mit den Kindern was mit mir als Frau zu tun hat? Vielleicht. Vor allem hat es etwas mit Dir und Elke Wagner zu tun. Mit Elke Wagner ja zuerst, sie war meine Ausbilderin die ersten drei HKIT-Jahre. Bei ihr bin ich auf ein Gegenüber getroffen welches die Stärke und Integrität besitzt mich zu spiegeln. Mir Raum zu geben mich zu spüren und mich wahrzunehmen. darüber war es mir ja erst gelungen Kontakt herzustellen zu meinem Körper und meiner Geschichte.
Nun in den Begegnungen mit dir kann ich detaillierter wahrnehmen und die Zusammenhänge spüren. Spurensuche. Die Spur aufnehmen. Detektivische Arbeit. Ich bin ja Frau und Mutter. Mein Lieblingsmärchen als Kind war unter anderen Brüderchen und Schwesterchen. Zum einen wird hier thematisiert die Integration der Nonne und Hure in sich, zum Anderen die Initiation der Frau in das Dasein als Mutter. Meine Mutterschaft und Sensibilisierung meiner Wahrnehmung sehe ich in Zusammenhang.
Dazu werde ich mich nochmal in Bezug setzen in der nächsten Zeit und schließe meine Betrachtungen an dieser Stelle vorerst. Es ist ein großartiges Geschenk für mich, dass unser Austausch möglich ist.
Meine Antwort an Y.M. am 23.4.2016
Danke für dein Vertrauen und die Beantwortung meiner Fragen. Ja, dieses Geflecht an Menschenfeindlichkeit in den einzelnen politischen Systemen zu entlarven, die Interessen, die dahinter zu Tage treten zu benennen, das ist schon sehr viel, was wir tun können … es wäre ein großer Fehler nur individuelle Verstrickungen zu sehen in der Frage nach dem fehlenden Halt, nach der fehlenden Erde, da sind große gesamtgesellschaftliche Kräfte am Wirken.
Ich war letzte Woche im KZ Bergen Belsen bei einer Gedenkfeier. Da sprach eine alte Frau, die als Vierjährige, ohne Eltern ins KZ kam – unvorstellbar. Sie erzählte ihre Erfahrungen in einem Märchen, indem es um eine kleine Prinzessin ging. Zum Glück wurde sie von den Siegermächten befreit und da ihr Name bekannt war und ihr Geburtsdatum konnte ihre überlebende Mutter ermittelt werden und sie in Amsterdam am Bahnhof abholen. Eine Fremde. Bleibt die Frage nach dem Halt.
Diese NS-Zeit haben ja das spätere Ost- und Westdeutschland gemeinsam erlebt und wir haben da eine gemeinsame Erinnerung, wie wir wissen, bis heute in unseren Genen gespeichert, wenn wir nichts dafür tun, die Zeiten der Diktatur und des Kaiserreichs, die ja ebenso gekennzeichnet war von Unwahrheiten und Bespitzelungen, von Versammlungsverboten … von Gewalt eben, in uns zu überwinden und zu gewaltfreien und dabei liegt meine Betonung auf frei, einem freien Umgang mit uns und anderen Menschen, mit Tieren und Pflanzen zu kommen, soweit dies eben möglich ist. **
Wir haben uns auf den Weg gemacht, auf vielen gesellschaftlichen Ebenen, mit vielen Verbündeten im In- und Ausland, dem Schrecken etwas entgegen zu setzten. Das konnte ich an der Rampe in Bergen Belsen mitten im Militärsperrgebiet der Bundeswehr spüren. Da sind demokratische Kräfte am Werk, denen wir uns anschließen können und uns aufgrund unserer Erfahrungen, der unserer Eltern und Großeltern und … weiterentwickeln können.
In einer meiner Tanzkurse im Westerwald erzählte mir eine Historikerin, die eine Chronik über die Stadt schrieb, in der sie wohnte, dass es ein perfides Bespitzelungssystem gab in früheren Zeiten und jeder Zehnte ein Spitzel war und es der Obrigkeit melden musste, wenn einer auf dem Acker fluchte oder sonst wie aus der Rolle fiel … sie zog den Schluss, dass die Menschen bis heute eine eigene Art haben sich gegenseitig zu bespitzeln und zu denunzieren oder eben die Kehrseite der Medalie, sich nicht zu zeigen, zu äußern … .
Soweit meine Assoziationen zu dem angesprochenen Thema. Aufgrund meiner Erfahrungen stünde es an und wäre es ein brennend aktuelles Thema für Soziologie und Psychologie die Auswirkungen von Diktatur und Krieg auf der Ebene von innerem Halt und Verunsicherung auf körperlicher Ebene näher zu erforschen.
Für mich hat das Thema auch noch eine andere Variante, wie geht Frau-sein in einer Diktatur, im Krieg, im KZ, im Kloster, das sind ja auch Themen denen wir in diesem Tanzjahr mit unseren ausgewählten Tanzplätzen und dem Dancing Dialogue Kollektiv auf der Spur sind. Wie wirkt sich das Zaubertuch auf unseren Frauenkörper aus? Wie du schon schreibst, im NICHT SPÜREN. Du darfst nicht spüren, titelt Alice Miller in einem ihrer Bücher. Ihr Sohn macht ihr heute, nach ihrem Tod schwere Vorwürfe, als Mutter versagt zu haben. Alice Miller kam aus Polen, war dort als Jüdin von den Nazis verfolgt, ebenso ihr Mann.
Sie haben Schlimmstes erlebt und sind in die Schweiz geflüchtet. Sie konnte diese Geschichte nicht in der Psychotherapie oder Psychoanalyse hinter sich lassen, sie trug sie mit sich und machte das ihr Mögliche daraus. Sie wurde zur Mahnerin dessen, was mit Kindern passiert in unfreien und unterdrückenden politischen, sozialen und familiären Systemen, mit Büchern, wie Abbruch der Schweigemauer, Du sollst nicht spüren, Der gemiedene Schlüssel, Am Anfang war Erziehung, Das Drama des begabten Kindes … setzte sie Maßstäbe in der Arbeit mit dem Inneren Kind und für einen demokratischen Umgang mit Kindern. Mehr war ihr nicht möglich. Sie rief mich eines Tages an, nachdem ich ihr ein paar Tanzbücher, in denen unsere Arbeit dokumentiert ist, zugeschickt hatte. Ich konnte spüren, dass sie das ansprach, was wir da machen. Dann riss die Verbindung nach Südfrankreich ab.
Da sind wir bei dem in Resonanzgehen, von dem du schreibst. Danke für die Reflektion, wie wichtig die Therapeutin da ist im Lernen für die Klientin. Was es braucht als therapetische Persönlichkeit, Menschen zu begleiten, als Therapeutin, Klientinnen zu begleiten. Auf jeden Fall, dass wir uns als Therapeutinnen an dieser Stelle selbst entwickelt haben und ein Vorbild sein können, das spürbar und damit erfahrbar Wege zeigt in einen gefühlten, gefüllten Körperkontakt mit sich selbst und mit den anderen.
Ich denke Frau-sein vollzieht sich im Leben mit anderen Frauen. Ein gelungener Kontakt, wie du es nennst mit dem eignen Körper, seiner Geschichte, seiner Geschichtetheit, das ist für mich Voraussetzung einen Grund zu finden, einen Halt. Ich freue mich, wenn du mir da noch mehr schreibst über deine Mutterschaft und deine Sensibilisierung.
Das Märchen Brüderchen und Schwesterchen erinnere ich aus grauer Vorzeit, es erzeugt sofort ein ungutes Gefühl in mir, dem werde ich mal nachgehen und das Märchen nochmal lesen. Danke für den Tipp. Nach Alfred Adler erzählen ja unsere Lieblingsmärchen aus der Kindheit unsere Kernthemen. Schauen wir mal. Nonne oder Hure, Frau und Mutter, das sind ja typische gesellschaftliche Frauenräume. G.F.
Einige Tage später schreibt Y. M. zu dem Märchen:
Interessanterweise gibt es in einigen Deutungen zu meinem Märchen ebenfalls den Begriff Doppelbödigkeit.
Ich habe sofort gedacht, dass das Wasser dem Schwesterchen ja die Botschaft überbrachte und nur sie dies hörte und wahrnahm während dessen ihr Bruder nicht in Resonanz ging weder zum Wasser noch zur Wahrnehmung seiner Schwester. Später denke ich: der Bruder geht ja doch in Resonanz zur Schwester, indem er ihrem Rat folgt. Doch fehlt ihm etwas, nämlich der Gefahr ganz und gar aus dem Weg zu gehen… . Diese beiden Realitäten der Sensibilität für das Unsichtbare und Hörbare auf der Einen und der Resonanzlosigkeit der Umwelt/Mitmenschen auf der anderen Seite finde ich interessant.
Für mich stellt in diesem Märchen das verseuchte/verzauberte Wasser die Vergiftung durch Macht und Manipulation dar. Schwesterchen selbst verhält sich ja so, dass sie nicht trinkt, weil sie weiß, dass es ihr das Leben nehmen würde. Spannend. Ihr gelingt es, sich dem zu widersetzen, dem Drang danach zu trinken aus diesen giftigen Quellen und somit gelingt es ihr auch den später „vergifteten“ und verwandelten Bruder zu warnen und großes Übel abzuwenden. Sie lebt in zwei Welten.
Selbst nach der Erlösung aus dem Versteck im Wald, eine Entsprechung für innere Emigration in meinen Augen, wird es ihr zum Verhängnis, da wieder sichtbar geworden für die „Hexe“. Ihr neu gewonnenes Vertrauen wird missbraucht und benutzt um neuerdings Macht auszuüben. Auch der Mann/König ist ja blind für das falsche Spiel obwohl er mit der ausgetauschten Königin ein Bett teilt.
Erst durch die Zeugenschaft der Kinderfrau wird der Mord – die Entkörperlichung (Dissoziation?) und der Betrug sichtbar und die Geschwister sind befreit von dem Ausgeliefertsein an die Kraft manipulativer und destruktiver (menschenfeindlicher) Strukturen – der „Hexe“ in diesem Fall.
Das passt doch zu unserer Therapeutin-Klientin-Beziehung irgendwie, erst die Zeugenschaft und der beherzte Mut der Kinderfrau, die Wahrheit dem König mitzuteilen bringt den (Selbst)Betrug ans Licht und die Königin/ Schwesterchen zurück in ihre Körperlichkeit.
liebe Y., ich lese gerne, was du über das Märchen schreibst, weil DEINE Deutung ist ja die einzige, die zählt … . Du bestätigst schon im ersten Satz mein Unbehagen, wenn ich als Kind das Märchen hörte: Doppelbödigkeit. Die war es, die mich abstieß, deshalb bin ich froh, ein bisschen von dir zu hören, was dich in dem Märchen anspricht … danke dafür.
Ja, es braucht Menschen, die als Zeugen auftreten und uns das Unglaubliche glauben machen. Immer wieder treffe ich auf den Satz: „Das ist doch unglaublich“, in der Therapie. Darum geht es doch, dass wir uns vertrauen und glauben, was wir wahrnehmen. Da ist der Grund für jedwedes Vertrauen.
Wasser wird tiefenpsychologisch als Gefühlsebene gedeutet, das ist vielleicht noch interessant für dich? Wir haben uns vergangenes Jahr sehr viel mit der Beziehung von Gefühlsebene und Bewegungsebene beschäftigt und wie die Gefühle, hoch gehandelt, doch auch Entwicklungen blockieren und bremsen können, ja im Fall von Brüderchen uns zu einem Fluchttier machen können. Wovor flieht er?
Eine wirkliche Entwicklung findet erst statt, wenn wir auf den sensomotorischen Grund gekommen sind, also die Gefühle als Weg sehen, als Bewegung hin zu unserer sinnlichen, körperlichen Wahrnehmung, die viel differenzierter und feiner ist als das Gefühle je sein können, sind sie doch eine Art Verallgemeinerung von sensibelstem Körperempfinden. Dieses ist bei Brüderchen eindeutig durch die Gefühle blockiert, er kann auch nicht weglaufen, er ist gefangen, ein Reh an der Leine, wie auf der Illustration von Ludwig Emil Grimm zu Brüderchen und Schwesterchen als Frontispiz zum Ersten Band der Grimmschen Kinder- und Hausmärchen in der zweiten Ausgabe von 1819.***
Wir erleben im Tanz die Welt von der Bewegungsebene aus, auch die Gefühlswelt und auch die Welt der Sinne, die Gefühle trüben oft unsere Sinne, blockieren oder kanalisieren unsere Bewegungen und verhindern, dass wir nicht den realen Kräften die uns in einem Augenblick gegenüber treten wahrnehmen und uns mit ihnen auseinandersetzen, also bewegen. Die Gefühle sind entstanden als eine Deutung einer Situation in der Vergangenheit und müssen immer wieder aktuallisiert werden, wenn wir up to date bleiben wollen, also dem, was uns im Hier und Jetzt begegnet gerecht werden wollen. Dafür brauchen wir unsere Körperempfindungen die im sensomotorischen Raum zu hause sind. Daran arbeitest du mit dem über den Boden Rollen.
Liebe Y., ich schreibe gerade an der Chronik 2015 und dabei fällt mir der Satz von EW ins Auge:
Ich denke gerade nochmal viel an die Basics der HKIT und das Lernen neuer Bewegungsmuster – denn, es geht eben nicht nur darum, festgehaltene Bewegungsimpulse zu Ende zu führen, sondern auch darum, neue Muster zu lernen – und über das Bewegungslernen – sensomotorisch – lernen wir automatisch eben auch auf anderen Ebenen neue Muster. Ich finde, diese zentrale Aussage der HKIT können wir noch viel deutlicher herausarbeiten.
Ich denke, was EW da schreibt, das hat auch viel mit dem zu tun, was wir gerade bewegen … dass du, wenn du mit den Kindern eine Basis schaffst, eine Bewegungsbasis, einen Ausgangspunkt, eine Haltepunkt, einen Grund, ihnen einen Halt gibst, den sie sich selber wieder holen können, schaffen können, indem sie sich über den Boden rollen oder in Kontakt mit ihren Händen mit der Erde gehen oder sich an den Rücken eines anderen Menschen anlehnen, ich denke, dass du da durch das Bewegungslernen auf sensomotorischen Niveau auch auf anderen Ebenen im Leben der Kinder zu neuen Mustern anregst. So entstehen durch Körperempfindungen neue Denk-, Glaubens-, Verhaltensmustern mit denen wir die Welt verändern können, in dem wir sie weiter rollen, ich muss lachen, es fallen mir die Rolling Stones ein … rolling on … eine Art von Graswurzel Revolution im Tanzunterricht;))
Y. M.:
Was mir zu Elke Wagners Gedanken und dem sensomotorischen Raum einfällt ist gleich einer Erinnerung. Eine Erinnerung daran wie gut das Leben ist, wenn ich in dieser Tiefe die Welt erfahre und entdecken kann. Daraus ziehe ich gerade tiefe Befriedung. Auch zum Thema neue Muster lernen.
Ich habe eben in einem Gespräch erläutert, dass es mir am Herzen liegt die kühle Körperdistanzkultur wie ich sie erlebt habe und kenne zu verändern und dafür den Mut aufbringen werde mehr Berührungspunkte zu schaffen ganz im körperlichen Sinne. Denn ich spüre seit unserer letzten innigen und im Grunde sehr einfachen Erfahrung, dass wir uns als Menschen eigentlich nach solcher Nähekultur sehnen und sie brauchen. Ich nenne dies mal absichtslose Sinnlichkeit.
So einen tiefen Frieden wie ich ihn gerade in mir erlebe habe ich vielleicht noch nie erlebt. Oder nur partiell. Das alles nur weil mir durch dein Forschen, Wirken und Handeln dieser Zugang erlebbar wird. Herrlich schön weiblich:)
Und zum Rollen, da verknüpft sich bei mir gerade etwas Fundamentales, habe ich das Gefühl. Mit den Studierenden an der Hochschule für Musik und Theater (ich habe einen Lehrauftrag hier für Kinder und Gruppentanz) habe ich dies auch gleich zur Erfahrung gemacht. Dabei ist mir einmal mehr aufgefallen, wie wenig in unserer Kultur dieses Rollen als Erwachsener selbstverständlich ist. Ich fege immer und immer wieder die zur Verfügung gestellte Räume, damit wir überhaupt am Boden sein können. Daran zeigt sich für mich auch eine gewisse Bezugslosigkeit zum Boden zur Erde. Ich bin neugierig wohin dieser neue Zugang mich führen wird.
Meine Antwort am 24.4.2016
Oh, gleich kommen mir die Fußböden, die ich geschrubbt habe, in Turnhallen mit diversen Duftölen, damit der Schweißgeruch etwas überdeckt wird und der Boden einladender … ja, Mutter Erde … tiefenpsychologisch steht die Erde für die Mutter … da haben wir etwas Entscheidendes auf unserem Weg in der Menschheitsentwicklung verloren … einen Zugang zu einer tragenden, haltenden Energie, die wir, wie du schreibst brauchen, die essentiell ist … .
Es gibt auch Menschen, die diese Erde in Zusammenhang mit dem Atem sehen, Luce Irigaray, in Die Zeit des Atems als Beispiel oder ich lese gerade in dem Buch von Nobuo Shioya, einem uralten buddhistischen Arzt, der den Atem als Jungbrunnen bezeichnet und tief in den Bauch schickt, leider spricht er diesen Zusammenhang von Atem und Yin nicht an. Das tun wir dafür in der Körperarbeit AATINI, wo wir üben, Bewegung und Atem wieder zusammen zu bringen.
Ich habe gerade mit einer Klientin daran gearbeitet, dass sie mit ihrem Atmen auch ihren Körper bewegt … es ist erstaunlich, dass dies keineswegs selbstverständlich ist. Sie benutzt den Körper wie eine Röhre in die der Atem ein und ausfließt, der Atem aber berührt sie nicht … . Alles Reden hat da keinen Sinn, ich lege mich also neben sie auf den Fußboden, neben ihre Matratze und bitte sie, ihre Hand auf meinen Brustkorb zu legen und zu spüren, wie es ist, wenn sich die Knochen im Brustkorb heben und senken.
Sie ist eine erfahrene Körpertherapeutin. Sie spürt mich und kann mir mit ihrem Gewebe sofort folgen. Seit Jahrzehnten, wir nehmen an, seit ihrer Geburt, da beginnt es ja mit dem Atmen, seit ihrer Geburt hat sie niemals ihr Gewebe bewegt beim Atmen, aufgrund traumatischer Erfahrungen in der Schwangerschaft. Sie ist seit über 10 Jahren bei mir in der Einzelarbeit. Ich glaube das einfach nicht. Ich habe immer mit ihr daran gearbeitet, aber letzte Woche war die Zeit reif und sie konnte mir mit ihrem Gewebe antworten. So einen langen Atem braucht es manchmal.
Vor Jahren haben wir bei ihr schon entdeckt, dass sie anders geht, dass da irgendwie etwas anders ist, wenn sie auftritt. Das war eine sehr schwierige Zeit für sie, ich habe schon befürchtet, sie verlässt die Therapie … doch wir haben uns durchgekämpft durch das blockierte Gewebe und sind fündig geworden. Sie blockierte ihre Energie bevor sie in Kontakt mit der Fußsohle und der Erde ging. Sie behielt die Energie für sich, die normalerweise zum Austausch in die Erde geschickt wird, zur Verwurzelung, zum Halt. Damit vermied sie in realen Kontakt zu gehen.
Wir konnten es nur verstehen aufgrund der negativen Erfahrungen im Mutterleib, sie musste sich sehr festhalten im Gewebe des Uterus um nicht bei den heftigen Bewegungen des Erbrechen der Mutter auf nimmer wiedersehen davon geschwemmt zu werden. Das war dann unsere Erklärung für ihr nicht in Kontakt gehen mit der Mater – Materie. Wir könnten ja meinen, gerade deshalb hält sie ganz stark fest. Was sich aber festgesetzt hatte als Urangst in ihrem Leben war die Haltlosigkeit, der Fall ins Bodenlose, die Auflösung im Chaos die droht, wenn sie loslässt.
Soviel vom Rollen zum Atmen zum Körpergewebe … ja, wir brauchen diese feinen Begegnungen, Bewegungen um … um zu Leben. G.F.
Y. M.:
interessant wie fundamental dieses Thema Halt ist. Halt und Atem und wie beglückend dann für euch beide diese jahrelange Arbeit „belohnt“ zu sehen und zu spüren. Das muss doch eine großartige Erfahrung gewesen sein für euch, so wie du die Sitzung beschreibst. Ich sehe auch wieder dieses Thema Vertrauen. Wie lange es braucht verlorengegangenes, verschüttetes Vertrauen wieder zu entwickeln.
Für mich ist es im Moment so, als ob diese im Grunde einfache Erfahrung des Vertrauen-könnens und Halt-spürens im Gegenüber und in sich selbst eine Grundbedingung für gelungenes Leben, Lieben und Handeln ist. Und durch deine Arbeit und die von Elke Wagner und vielen Wegbegleiterinnen der HKIT ist diese Erkenntnis KÖRPERLICH geworden.
Warum ist das wichtig?
Weil ich glaube, dass dieses gelungene körperliche Selbstverständnis wie du sagst, die Welt verändern kann – und muss. Sehr interessant. Y.M.
Zusammenfassung
Dieser Erfahrungsaustausch mit einer Klientin ist für mich deshalb so wertvoll, weil er die Betroffenheit des Individuums zeigt von manipulativen und destruktiven Machtstrukturen, der nicht nur die Einzelne sondern die Familie, die Gesellschaft unterworfen ist. Es wird deutlich, wie sich diese bis in das Körpergewebe hinein auswirken, welche Bewegungsunsicherheiten entstehen, bis hin zum fehlenden Halt und zu mangelndem Selbstvertrauen.
Es wird aber auch deutlich, wie es möglich ist, diesem Mangel nicht nur auf die Spur zu kommen sondern zu ändern. Dazu braucht es andere Menschen, die Gemeinschaft, in der wir uns aufgehoben fühlen, öffnen können, zeigen können, ZeugInnen haben für das, was uns passiert ist, die uns sehen und die uns ermutigen aufzustehen, wenn wir gefallen sind und weiter zu gehen. Tanztherapeutisch in diesem Falle eher umgekehrt, also Zeuginnen, die uns ermutigen zu fallen und liegen zu bleiben um den Halt zu finden, den wir vermissen. Eine Rückführung der besonderen Art. Wieder Kontakt haben zu unserem Körper-sein und Frau-sein und damit zu Werten die lebensfördernd sind für das Individuum und für die Gemeinschaft. Dass diese Kräfte nicht nur in politischen Strukturen wirken sondern ebenso in wirtschaftlichen Machtverhältnissen und ihren Auswirkungen manipulativ und destruktiv zu spüren sind, wie sie aktuell über TTIP diskutiert werden, darauf macht Y.M. mit ihrem feinen Spürsinn aufmerksam.
G.F.
Jahrgang 1951, Studium der Berufspadagogik, fünf Jahre Lehramt an Beruflichen Schulen, zehn Jahre Tanzstudium, fünf Jahre Ausbildung in Körperpsychotherapie bei Gerda Boyesen und in rituellem Maskenbau bei Dr. Felicitias Goodman. Seit über 30 Jahren Arbeit mit Menschen in Bewegung. Gründung des Ausbildungsinstituts HKIT für Tanzpädagoginnen und Tanztherapeutinnen in der Lüneburger Heide. Leitung Elke Wagner. Initiatorin des Projekts Tanzen braucht eine Heimat, Tagungszentrum Tanzheimat Inzmühlen. Leitung Stefka Weiland. Aktueller tänzerischer Forschungsschwerpunkt 2016: Wie bewegt sich Weiblichkeit? Dazu Performancearbeit mit Masken, Performancearbeit in den Frauen-Klöstern der Lüneburger Heide, Performance an der Rampe KZ Bergen Belsen und Projekt Wort und Tanz zu Maria Jahoda mit Dr. Gisela Notz.
Y. M.
Member of the International Dance Council CID UNESCO
Dozentin an der Hochschule für Musik und Theater
Vizepräsidentin Tanzverband M-V
Tanzpädagogin, Tanztherapeutin HKIT® i.A , Referentin
http://www.tanztherapeutinnen.org
Anmerkungen
AATINI, Bewegungsritual der HKIT, beschrieben in Gabriele Fischer, Aatini, Hör- &Tanzbuch und Aatini, Film von M.M. Pastian, 2009.
HKIT, Heilende Kräfte im Tanz, eine vor 30 Jahren entstandene Tanzrichtung in der wir die heilsame Wirkung von Tanz erfahren und erforschen. Ausbildungsinstitut HKIT.
http://www.heilende-kraefte-im-tanz.de
Tanzheimat Inzmühlen, http://www.tanzheimat.de
Quellen
*Artikel G.F. Sehen und Gesehen werden, 2015, HKIT-Verlag
**http://www.arte.tv/guide/de/057414-002-A/das-raetsel-unseres-bewusstseins-1-2
Das Rätsel unseres Bewusstseins (1/2)
Donnerstag, 28. April um 16:10 Uhr (58 Min.)
Wiederholung am Freitag, 06.05. um 16:00 Uhr
Was weiß die Wissenschaft heute über unser Bewusstsein? Spektakuläre Erkenntnisse scheinen erstmals Licht ins Dunkel zu bringen. Die Dokumentation erläutert die neuesten neurowissenschaftlichen Studien über die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins, über den Schlaf, den Traum sowie über gravierende Beeinträchtigungen der menschlichen Psyche.
Im Laufe der Evolution des Menschen hat es sich als vorteilhaft erwiesen, im Innern des Organismus eine Vorstellung von der Außenwelt zu entwickeln. Das Bewusstsein – oder das, was man “Geist” nennt – ist letztendlich die biologische Fähigkeit, im Gehirn eine immer differenziertere Vorstellung von der Außenwelt zu entwickeln. Das Bewusstsein, das den Menschen so einzigartig macht, galt zumindest bis in die Neuzeit als gottgegebenen und konnte nicht mit bloßen biologischen und neurologischen Prozessen erklärt werden.
Um den Ursprung des Geistes zu verstehen, müssen das Vorstellungs-, Interpretations- und Rekonstruktionsvermögen des Gehirns untersucht werden. Was wir sehen, ist eine ständige Rekonstruktion der äußeren Realität. Mit optischen Täuschungen lässt sich das menschliche Bewusstsein deshalb nach Belieben manipulieren.
Dank spektakulärer Fortschritte auf dem Gebiet der Neurowissenschaften und neuer bildgebender Verfahren beginnen wir, das Bewusstsein besser zu verstehen. Heute untersuchen Forschungsprojekte wie das Human Brain Project der Europäischen Kommission oder die Coma Science Group in Liège die genaue Funktionsweise des Bewusstseins.
Die Dokumentation erläutert die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Entwicklung des Bewusstseins bei Neugeborenen. Ab wann lassen sich im Gehirn die ersten Anzeichen eines Bewusstseins nachweisen?
Außerdem beleuchtet die Dokumentation die menschliche Gehirnaktivität während des Schlafs sowie Bewusstseinsstörungen bis hin zu deren schwerster Form, dem Koma. Löst die Wissenschaft endlich ein Geheimnis, das Ärzte und Philosophen wie etwa Descartes mehr als 2.000 Jahre lang vor große Fragen stellte?
*** https://de.wikipedia.org/wiki/Br%C3%BCderchen_und_Schwesterchen Einblick am 24.2.2016