Schlagwörter
dancing dialogue, Heilende Kräfte im Tanz, Inklusion, Tanztherapie
Anita kranz Moser, die Lüftlmalerin, ist seit ca. 2 Jahren in der Dancing Dialogue Compagnie. Sie kam auf Empfehlung ihrer Nichte, einer Tanztherapeutin HKIT zu uns. Die Lüftlmalerin lebte mit ihrem Mann und ihrer Tochter, einem aufgeweckten Mädchen im Grundschulalter in ihrem Haus in Ostfriesland und hatte seit einigen Jahren die Diagnose ideophatische Dystonie, diese Diagnose wurde in München in einer „Schönklinik“ gestellt. Der dortige Professor Dr. Ceballus-Baumann ist zur Zeit wohl einer der führendsten Köpfe auf dem Gebiet der Bewegungsstörung.
Nach den ersten gemeinsamen Tanzstunden mit der Lüftlmalerin war mir klar, sie wird unsere Tanzcompagnie bereichern. Wie das gehen soll, mit einer Tänzerin die es schwer hat sich aufzurichten, aufrecht zu stehen wusste ich damals nicht. Ihre ersten Schritte in der Tanzcompagnie zeigten mir, sie war der Eckstein in der Gruppe. Das Thema Nähe, das sich durch vielfältige Umschichtungen innerhalb der Gruppe herauskristallisiert hatte wurde durch sie mit voller Kraft nach vorne auf die Bühne katapultiert.
Hat die Lüftlmalerin unser Tanzen verändert? Ja, ohne Frage, wie jede Tänzerin, aber wie? Pas de Deux ist angesagt, die Solos werden wichtiger, jede Tänzerin braucht neben den Pas de Deux auch ihren Raum. Die ganze Gruppe bezieht sich stärker aufeinander als jemals zuvor. Zugewandtheit. Körperliche Nähe … Die Lüftlmalerin selbst fragt sich: Wie sieht ein Leben mit „Bewegungsstörung“ aus, wenn es den heilenden Kräften im Tanz begegnet? Worin liegt die tatsächliche Qualität von HKiT? Worauf bezieht sich diese Tanzform? Wo sind ihre Wurzeln?
Das Thema Inklusion ist angesagt, selbst Zeitschriften wie die BRIGITTE, die bekannt sind das Schöne und Gute auf der Welt zu verbreiten wenden sich dem Thema zu, es ist in. Hier nun unser Dancing Dialogue Beitrag zu diesem Thema, ich schreibe Anita kranz Moser eine Email nach unseren gemeinsamen Tanztagen. Es geht um das, was wirklich wichtig ist:
Hier nun in einer freien Minute beim Vogelgezwitscher des beginnenden Morgens meine Gedanken als ich Dich tanzen sah am 9. Juni 2014. Es waren die letzten Stunden unseres Dancing Dialogue Treffens zu Pfingsten. Am Tag zuvor hatte Gudrun Tandler ihr Solo ANFANG getanzt zum dreijährigen Dabeisein bei Dancing Dialogue.
Wir öffneten die Bühne noch einmal unter uns Tänzerinnen und stellten uns der schier unlösbaren Aufgabe ANFANG zu tanzen, die sich Gudrun Tandler einen Tag zuvor gestellt hat. Du warst die letzte die die Bühne betrat. Alle anderen hatten vor Dir getanzt. Die Energie der Gruppe war schon auf Abschied nehmen und Heimfahren gedimmt und da …
sah ich Deine unbändige Kraft, Schubkraft, wie so ein Bohrer, der viele Meter Durchmesser hat und den Elbtunnel in HH oder jetzt gerade die S-Bahnröhre zum Flughafen durch die Erde gedrückt, geschoben, gedreht hat … ich sah Dein Gesicht, in einer Mimik, wie ich sie nur in Ansätzen kannte, äußerste Kraft eben und auch Deine Stimme, mit sehr viel Druck und Power … ich dachte, wann entspannt sich diese Frau bei so einem Kraftaufgebot …
Du sagtest nach dem Tanz, dass es lustvoll für Dich war zu tanzen und ich kann spüren, welche Lust es bereitet an die Grenzen zu gehen, alles zu geben, nichts zurück zu halten … Stefka Weiland, unsere Musikerin, zeigte uns dann am Abend ihre Aufnahmen von afrikanischen Mädchen am Strand tanzend, völlig neue und unbekannte Bewegungsmuster waren da zu sehen und da dachte ich, ja, wie bei der Lüftelmalerin, völlig neue unbekannte Bewegungsmuster …
das hat mich tief beeindruckt, die Offenheit und Ehrlichkeit, das JETZT und so ist es jetzt … diese Berührungsgrenze bei Dir selber, Deinen Raum auslotend, was geht … die Mädchen in Afrika am Strand haben so was ähnliches gemacht und doch war es nicht existenziell für sie, es war Spiel, Erfindungsgeist … für Dich war es die schiere Existenz, es war dringlich, unaufschiebbar … und es war ein „Da geht es weiter“ … wohin wissen wir nicht, aber, wir wissen dass es gut wird, wenn ich Gerda Boysen zitiere …
Wieder kommen mir die Bilder von dem Afrikatrailer, dieser kahle Hof mit der Villa des Kulturministers, die ich am Abend zuvor sah, diese virtuosen Musiker … Kunst ist da, wo wir sind …
Weißt Du, Dein Tanz zeigt schockierend und brutal in seiner Nähe Deine Bewegungsbehinderung, nicht auf diese Mr. Bean Tour zum Lachen und auch nicht auf diese Art, dass Du Dich den Bewegungsmustern die um Dich herum laufen anpasst, Bewegungsmuster des „Normalen“, die wir internalisiert haben und die eine Bewegungsbehinderung im Vergleich erst diagnostizierbar machen,
nein, da ist etwas Echtes auf der Bühne, keine Nachahmung des Normalen, noch viel weniger eine Behinderung sondern ein mir völlig unbekanntes Bewegungsrepertoir, das genau so seine Berechtigung hat wie meines, egalitär eben … das ist das Schockierende, in Deinen Bewegungen eine Behinderung zu sehen … denn da ist nichts gestört sondern da ist schiere Kraft, Lebenskraft und Lebenslust, wie Du sie empfunden hast, ein an die Grenzen gehen … ein Paradigmenwechsel whoow, es geht nicht um Integration sondern um Anerkennung von Formen des Ausdrucks …
Dein Tanz war so revolutionär ich habe schon Tänze, auch Solos von Menschen mit Bewegungsbehinderung gesehen, aber nicht das, was du gemacht hast, Du hast uns konfrontiert mit Dir und das ist es ja gerade, was ich will mit Dancing Dialogue, erst dann ist ja ein wirklicher Dialog zwischen Menschen möglich … wenn wir uns einander öffnen und zeigen, auch Heilung braucht das … ich dachte nie, dass Menschen mit Bewegungsbehinderung sich so verstellen müssen, so eine große Anpassungsleistung bringen an das NORMALE, an das Genormte …
Wohin führt dieser Tanz, was für eine Ermutigung … Dein Tanz ist ein Türöffner in eine neue Welt … gleichberechtigt steht das Bewegungsvermögen eines jeden Menschen neben dem des anderen, Egalité, Fraternité, Liberté, wo sind die Ideale der Französischen Revolution? Bei Dir sind sie angekommen. Du hast die Freiheit genommen und Dich auf das Ross der Gleichheit geschwungen und bist zu Deinen Schwestern getanzt …
Die Antwort der Lüftelmalerin auf mein Feedback:
Ich bin tief berührt, ja Du hast M I C H gesehen und mich tief in meinem „Ganzen Jetzt So Sein“ erkannt. Ich wußte von Anfang an, Du wirst meine Zeugin, meine Mentorin, meine Weggefährtin und auch meine Komplizin.
Du hast die Erfahrung und die Kraft und den Mut den Blick zu halten. Du kannst über Dein geöffnetes Herz in die Tiefe der Untiefen mitgehen, mitfühlen und da auch mit verbleiben, weil Du gelernt hast am tiefsten Punkt des menschlichen Lebens die stumme Leere zu halten, zu vertrauen und zu bleiben, bis sich dieser Nullpunkt von selbst wieder (in Eigendynamik) in Bewegung setzen will. Sich verändern will und a n f ä g t einen neuen A N F A N G finden zu wollen. Einen neuen Rhythmus, eine neue Gangart: Wie kann es gehen? Und es sagt sich in mir: „So kann es gehen, so ist es besser, so kann es gehen, so ist es besser, besser…..“
Ich habe den Anfang meines Seins getanzt, nackt, ehrlich, kompromisslos, unverschönt und Du hast es gesehen! So danke ich Dir aus tiefstem Herzen.
Ich freue mich unglaublich über Dein Verstehen, über Deine Worte, über Deine Sätze, über Deine Texte, und klar ist dieser Tanz revolutionär, und klar will mein Tanz in die Welt hinaus…
Zum Schluss möchte ich die Fragen der Lüftelmalerin noch einmal in den Ring werfen und zumindest andenken:
1. Wie sieht ein Leben mit „Bewegungsstörung“ aus, wenn es den heilenden Kräften im Tanz begegnet?
2. Worin liegt die tatsächliche Qualität von HKiT?
3. Worauf bezieht sich diese Tanzform?
4. Wo sind ihre Wurzeln?
Die Erfahrungen mit dem Tanz von Anita Moser am Pfingstmontag 2014 zeigen mir:
1. Wie sieht ein Leben mit „Bewegungsstörung“ aus, wenn es den heilenden Kräften im Tanz begegnet?
Es gibt keine Bewegungsstörung. Es gibt genormte Bewegungsmuster, die uns erlauben Bewegungsvermögen das aus der Norm fällt zu bewerten. Das eine sind die Behinderten, das anderen die Artisten, Schlangenfrauen, Akrobaten, auch sie bewegen sich ja anders als die Norm, allerdings wird ihr Bewegungsrepertoire positiv bewertet und nicht als Bewegungsbehinderung gesehen wie bei den Bewegungsgestörten.
Wenn wir über die Störfalle hinaus denken, hinaus gehen, hinaus tanzen und dazu laden die HKIT ein, dann fällt auf, dass jeder Mensch ein Tänzer ist oder eine Tänzerin, dass jeder Mensch das Recht hat individuell gesehen und gefördert zu werden in seinem ihm eigenen Bewegungsvermögen.
Nun, das sind revolutionäre Worte in einem Tanzbetrieb in dem Leistung immer noch als Anpassung an die Norm gesehen wird und der Körper bis hin zu dauerhaften Verformungen in der Kindheit trainiert wird um der Norm, der Tanznorm zu entsprechen.
Die Lüftelmalerin versucht ihr JETZT zu tanzen. Das, was sie jetzt im Moment wirklich spürt an Bewegungsmöglichkeiten und Bewegungsgrenzen, was sie wagt zu zeigen. So sieht das Leben dem HKIT begegnet aus. Eine Ermutigung zu sich selbst zu stehen. Keiner Norm zu entsprechen und normativen Bewegungsanalysen die den gestählten Körper (Rudolf von Laban) im Hinterkopf haben und die menschliche Bewegung in einen Kristall ordnen zu widerstehen.
3. Worauf bezieht sich diese Tanzform?
4. Wo sind die Wurzeln der HKIT?
Die Bewegung des Lebens zeigt sich nach Wilhelm Reich im Öffnen und Schließen. Da beginnt unsere Bewegungsanalyse in der Humanistischen Psychologie oder bei Vicky Val, die sagt: Seid vorsichtig meine Freunde, ihr betretet das Gewebe meines Lebens und wir folgen dem Leben mitten hinein in das Strömen und Fließen, der Bewegungsanalyse von Gerda Boysen, den Blockaden auf der Spur.
Es geht um Libido, wie sie Sigmund Freud nennt, die Lebensenergie, das CHI der Chinesen, die Kundalini der Inder, das Manitu der First Nation, den Heiligen Geister der Christen, ja auch im Christentum gibt es TänzerInnen wie die Shaker, die im Schütteln des Körpers den Heiligen Geist ansiedelten.
Wilhelm Reich nennt die Lebensenergie Orgon und sucht sie über den Körper hinaus auch im Kosmos. Der Fluss der Lebensenergie ist es der mich interessiert wenn ich einen Tanz sehe. Hier liegen die Wurzeln der HKIT und ihrer Bewegungsanalyse in der humanistischen Psychologie, da geht es um den Menschen und nicht um eine Methode oder eine Norm und die Leistung der Norm zu genügen oder sie zu überflügeln.
Beobachtung, Körpergefühl, Bedürfnis, Bitte. Diese vier Schritte nach Marshall Rosenberg hinein in eine gewaltfreie Kommunikation mit dem Körper eines Menschen sind die Grundlage unseres Tanzens. Humanistischer Tanz? Ein unnützes Wortspiel oder bittere Notwendigkeit?
2. Worin liegt die tatsächliche Qualität von HKiT?
Stellen wir den Menschen in den Mittelpunkt des Tanzgeschehens so können wir von der heilsamen Wirkung von Kunst, wie das Joseph Beuys nennt nicht absehen. Tanz ist immer dort heilsam, wo wir uns folgen, aus der Norm ausbrechen. Das ist die Tradition von Heilungstänzen wie der Tarantella, dem ägyptischen Zar, dem brasilianischen Candomble. Der Mensch auf der Suche nach seinem Rhyhtmus im Kontakt mit den Rhythmen seines sozialen Umfelds. Rhythmen können sich ändern, können verloren gehen, können veraltet sein, können neu definiert werden.
Tanz ist nicht nur Ausdruck, Tanz ist auch Rhythmus tief innen. Tanz vollzieht sich zwischen öffnen und schließen, strömen und fließen auf der einen Seite und begrenzen, blockieren auf der anderen. Eduardo Chillida sagte einmal: Zum Glück gibt es Grenzen auf der Welt und ich kann Bildhauer sein oder ein andermal spricht er von dem Geräusch von Grenze.
Das konnte ich in den Bewegungen der Lüftelmalerin hören, Tanz hören. Dieses Geräusch wie an einem Rangiergleis der Bahn, es schrillt und dann rumpelt und pumpelt es ordentlich und der Zug fährt in eine andere Richtung davon. Tanz ist tradiert interdisziplinär und verbindet die Künste mit den Menschen während er sie mitten hinein trägt ins Leben. Tanz findet nicht im stillen Kämmerlein statt und wird nachher ausgestellt. Tanz ist immer eine Zurschaustellung des ganzen Menschen in seinem Leibsein.
Wer Augen hat zu sehen, der sehe. Wer Ohren hat zu hören, der höre … unsere Existenz ist abhängig von der Weite unseres Umfangens von Raum und Zeit … frei nach Merlot Ponty. Wie viel bekommen wir wirklich mit von unserem Leben?
Und ich will möglichst viel mitbekommen von meinem Leben. Darin liegt die Qualität von HKIT. Dass wir mit dieser Tanzform hinausgehen können und gleichzeitig mitten hinein in die Tiefe des Lebens und dass wir aufgefordert sind als TänzerInnen das immer wieder aufs Neue zu tun. Die Synthese von Raum und Zeit ist immer wieder neu zu beginnen. M.P.
HKIT sind keine Kunst im Elfenbeinturm. HKIT sind angewandte Kunst. HKIT gehen vom Bewegungsrepertoire eines Menschen aus und nicht von einem vorgegebenen und anzustrebenden Bewegungsrepertoire. HKIT geht von der Vollständigkeit einer Tänzerin, eines Tänzers aus und nicht von ihrem/seinem Mangel.
Hier noch ein weiterer wichtiger Aspekt auf der Suche nach neuen Perspektiven im Tanz sind mir vor vielen Jahren die Orixa des afrobrasilianischen Candomblé begegnet und eine der Mittänzerinnen die dem Tanz der Lüftlerin zuschaute sagte in dem anschließenden Gespräch:
Ich habe Omulu gesehen, der Orixa aus dem Candomblé, der die Pest bringt und die Heilung.
Und tatsächlich, es war eine Atmosphäre von einer erschlagenden, besitzergreifenden, atemberaubenden, unbändigen, erdrückenden Macht, Allmacht im Raum als die Lüftelmalerin tanzte. Omulu ist ein großer und mächtiger Orixa … und als die Lüftelmalerin nach dem Tanz sagte, es war lustvoll für sie so zu tanzen war Omulu für mich komplett, aus dieser Polarität von Heilung auf der einen Seite, dem Vorhandensein von Lust, Lebenslust und auf der anderen Seite Verletzung entspringen die Bewegungen Omulus. Tanz hilft uns diese Polaritäten zu überwinden und in einem umfassenderen Sinn wahrzunehmen und bietet eine ganzheitliche Sicht der Welt.
Angedacht sind die von der Lüftelmalerin gestellten Fragen nun und ich hoffe es wird deutlich, was geht, wenn nichts mehr geht. Weitere Tänze im Dialog werden folgen und das Spektrum der Tanzform Dancing Dialogue erweitern, darauf freue ich mich und lade gerne zu einem Tänzchen in der Dancing Dialogue Compagnie ein um die Synthese von Raum und Zeit immer wieder neu zu beginnen. Unser nächstes OPEN findet vom 8. August bis 18. August 2014 in der Tanzheimat Inzmühlen statt. Wir feiern im August unser 15-jähriges Bestehen als Tanzcompagnie. An dieser Stelle möchte ich schon mal auf spontane Events aus diesem Anlass aufmerksam machen. Sie werden im Newsletter des Instituts HKIT veröffentlicht. G.F.
Hier noch ein spontaner Kommentar einer Mittänzerin:
… auf jeden Fall war der Tanz unglaublich beeindruckend und das Wort Bewegungsbehinderung kann man direkt in den Mülleimer kippen und durch den Reißwolf lassen, das Wort braucht man als Beschreibung von diesem Tanz überhaupt nicht.